Spurensuche nach jüdischem Leben

Hilde Selling, Isidor Simon oder Julius Löwenstein – Namen, die den meisten Echzellener heute kaum noch etwas sagen. Diese Namen gehörten Menschen, die sich früher selbst Echzeller nennen konnten. Doch dann kam der Holocaust und auch danach blieben ihre Namen vergessen. Der Arbeitskreis „Jüdisches Leben in Echzell“ hat sie wieder in Erinnerung gerufen, mit einem Rundgang durch die Gemeinde. Schon zwei Tage vorher wurde durch einen Vortrag in der evangelischen Kirche Gettenau an die Verfolgung der Juden erinnert.    Spurensuche nach jüdischem Leben 70 Jahre nach der Deportation: Rundgang mit Dr. Jochen Degkwitz Echzell (kai). Wo lebten in Echzell Menschen jüdischen Glaubens? 70 Jahre nach der Deportation der Mitbürger begaben sich rund 30 Echzeller auf Spurensuche. Der Arbeitskreis »Jüdisches Leben in Echzell« hatte am Samstag zu der fast zweistündigen Tour eingeladen. Dr. Jochen Degkwitz führte die Gruppe von Haus zu Haus. »Sie wohnten mitten unter uns«, sagte er. Trauer und Scham gehörten zum Rundgang. Trauer, denn 59 Echzeller hätten den Holocaust nicht überlebt. »Und Scham, weil unsere Ortsgemeinschaft noch immer keine angemessene Form der Erinnerung an sie gefunden hat«, sagte Degkwitz. Zwölf Häuser lagen auf der Tour – alles Häuser mit Geschichte. Juden lebten seit dem ausgehenden Mittelalter in Echzell. Gerade im ländlichen Raum seien sie seit jeher selbstverständlicher Teil der dörflichen Gemeinschaft, hätten als Händler, Metzger und Bäcker gearbeitet. Der Rundgang begann am Geburtshaus von Hilde Selling in der Lindenstraße. Die 88-Jährige lebt heute in den USA und hält Kontakt zum Arbeitskreis. Ihr Vater Adolf Kaufmann war Metzger, die Familie emigrierte 1938 in die USA. Auch in der Lindenstraße führte die Familie Wormser einen Laden. Sally Wormser war Gründungs- und Vorstandsmitglied des SV 1920. Die Familie schaffte es über Frankfurt in die USA. »Die Echzeller Juden betrieben in der Regel keine Landwirtschaft, deshalb unterschieden sich ihre Häuser und Höfe von denen ihrer Nachbarn«, erklärte Degkwitz. Überlebt und zurückgekehrt In der Hauptstraße kam man zur Metzgerei von Theodor Kaufmann, in der heute die Wäschereiannahme ist. Einige Häuser weiter, die Metzgerei Siegmund Löwenstein und das Haus von Moses Mayer, in dem heute seine Enkelin Edith mit Familie lebt. Sie und ihre Mutter überlebten den Holocaust, sie kamen wieder nach Echzell, kauften 1952 ihr Haus zurück. Die 77-Jährige grüßte die Rundgangteilnehmer freundlich, kam zu einem kurzen Gespräch vor die Tür. Im Haus Eschbaumgasse 12 gab es noch eine Metzgerei, die von Julius Löwenstein betrieben wurde. Einige Häuser weiter lebte der Händler Moses Löwenstein. »Bei den Löwensteins gab es viele gleiche Vornamen in einer Generation, da haben wir keinen klaren Überblick, was ihr Schicksal angeht«, erklärt Degkwitz. In der Bäckergasse erwartete Kurt Mogk die Gruppe. Er ist bestens über die Geschichte seines Hauses informiert. Schon seit Jahren sammelt er alles, was er über die Familie von Isidor Simon herausfinden kann. Nach Isidors Tod 1935 kauften Mogks Eltern das Haus. Ein Simon-Sohn lebte und starb in Stockholm, ein weiterer in Südafrika. »Sein Enkel aus Israel war schon hier«, erzählt Mogk. An der Bahnhofsstraße gab’s einen weiteren Stopp am Haus von Julius Simon, der ebenfalls Mitgründer des SV war und 1931 zum Vorsitzenden gewählt wurde. Mit dem Transport vor genau 70 Jahren kamen er, seine Frau und der Schwiegervater nach Theresienstadt, alle drei wurden 1944 in Auschwitz ermordet. Auch ihre drei Kinder überlebten den Holocaust nicht. An der Ecke Bisseser Straße/Mühlgasse befand sich die Mikwe, das rituelle Tauchbad, der Echzeller jüdischen Gemeinde, das vor etwa 100 Jahren aufgegeben wurde. In der Bisseser Straße in der Nähe der Synagoge lebte Familie Emanuel Rossmann, er starb bereits 1918, seine Frau wurde in der Progromnacht angegriffen, die Wohnung verwüstet, ebenso wie die Synagoge. Ein Sandstein erinnert an den Standort, heute steht dort eine Spielhalle. Die 1865 erbaute und 1938 geschändete Synagoge wurde Ende der 1950er Jahre abgerissen. »Eine unsensible Entscheidung«, urteilte Degkwitz. Dies sei wohl der Zeit geschuldet gewesen, in der auf die Ereignisse zuvor mit einem Tunnelblick geschaut worden sei. Vorbei an den Häusern der Bäckerei Julius Rossmann, dessen Familie 1936 nach Haifa auswanderte, ging es zum ehemaligen Grundstück von Viehhändler Max Simon, der der letzte Vorsitzende der israelitischen Gemeinde Echzell war. Er zog 1939 mit seiner Frau nach Frankfurt und starb dort, sie wurde nach Minsk deportiert. Immer mal wieder gesellten sich Nachbarn zu den Rundgängern und berichteten von früher. »Ich erinnere mich noch genau an die Nacht, als die Synagoge brannte, eine solche Angst hatte ich nie wieder«, erzählt eine weißhaarige Echzellerin. Ihr Vater habe den Männern aus dem Fenster zugerufen, was das solle. Darauf gab es Drohungen, erzählt sie. Ein anderer erinnert sich an die Erzählungen über die letzte jüdische Trauerfeier im Ort. Ein Bauer sei mit einem Jauchefass vordem Trauerzug hergefahren und habe die stinkende Brühe vor ihnen auf den Weg laufen lassen. Pfarrer Heinz Weber fand zum Abschluss Worte der Hoffnung. Er verglich das, was der Arbeitskreis angestoßen hat, mit dem Aufräumen des Kellers. Es sei so viel Schlimmes geschehen, das erschüttere. Aber es gebe auch so viele schöne Erinnerungen, beides müsse zurück ans Tageslicht. © Wetterauer Zeitung vom 17.9.2012         zurück

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