Gedenkveranstaltung Reichspogromnacht

Mit einer Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht haben die Stadt Florstadt und ihre Jugendpflege im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Lokalen Aktionsplan (LAP) ein Zeichen gegen das Vergessen gesetzt. Es gelang der Spagat zwischen einer Kulturveranstaltung mit Prosa und Lyrik und dem Gedenken gegen Hass, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Gleichzeitig setzte man Zeichen für Demokratie und Toleranz. Pfarrerin Ursula Seeger hielt am Abend im Saal Lux zunächst eine Andacht ab, in der sie verdeutlichte: „An einem Tag wie heute gedenken wir der Opfer und wissen, dass nie mehr sein darf was gewesen ist. Wir gedenken der Opfer und ihrer Hoffnung, dass einmal bessere Zeiten kommen werden. Wir leben in diesen besseren Zeiten“. Man könne nicht aufhören, an daran zu erinnern. Man müsse sich sogar daran erinnern: „Das sind wir den Opfern schuldig, Männer, Frauen und Kinder wie Du und ich., Florstädter Bürgerinnen und Bürger, seit Generationen hier ansässig, die dachten, sie hätten hier in der Gemeinschaft ihren festen, sicheren Platz“, sagte Pfarrerin Seeger, die außerdem konstatierte: „Wir sind es den Opfern und ihrer Hoffnung schuldig, uns zu erinnern“, denn „wir leben in einer Zeit ohne Krieg und mit einer Verfassung, die Diskriminierung verbietet“. Mit Gongschlägen und dem Entzünden von Kerzen, die Florstädter Schüler am Nachmittag gestaltet hatten, gedachte man der Kinder, die mit medizinischem Sadismus ermordet wurden, der Sinti und Roma, die als Zigeuner und Plage beschimpft wurden, der Bibelforscher, Pazifisten, Kriegsdienstverweigerer sowie der Kommunisten und Sozialdemokraten, die zu Hunderttausenden den Tod fanden, der Behinderten, denen man den Wert des Lebens absprach, der homosexuellen Menschen, die totgeschlagen und deren Geschichte totgeschwiegen wurde, sowie der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, die verhungerten oder an Erschöpfung starben. Bürgermeister Herbert Unger dankte allen Anwesenden, die der Einladung der Stadt Florstadt und ihrem Programm „Florstadt kulturell“ gefolgt waren, gerade weil es ein so trauriger und nachdenklicher Anlass sei. Es gelte die Erinnerung an die Folgen menschlicher Verwirrung und politisch motivierter Gräueltaten wach zu halten und den Jahrestag der Reichspogromnacht ähnlich wie Totensonntag oder Volkstrauertag eine Ehre zu erweisen. Allein die Tatsache, dass ein junger Mann mit Florstädter Wurzeln, der sich offenkundig einer gewissen Anhängerschaft –auch aus Florstadt- erfreuen durfte, derzeit unter anderem wegen des Verdachts neonazistischer Umtriebe und ausländerfeindlicher Aktionen vor Gericht stehe, zeige einmal mehr, dass „unsere ganzen Bemühungen und Anstrengungen in den letzten 74 Jahren noch nicht ausreichend waren“, sagte das Florstädter Stadtoberhaupt. Und da es sich hierbei nicht um ein Florstädter, sondern ein gesamtstaatliches Problem handele, „finde ich es angemessen und notwendig, dass sich der Bund mit entsprechenden Finanzmitteln über den Lokalen Aktionsplan (LAP) in Florstadt, Reichelsheim, Echzell und Wölfersheim für mehr Toleranz im Umgang miteinander beteiligt“, stellte Unger fest, ehe er den Verantwortlichen des LAP dankte. Als Erinnerung an „die dunkelsten Stunden unserer Nation“ empfahl er die Worte von Hilda Stern-Cohen, „auf das den Ewiggestrigen klar werde, dass menschenverachtende Verbrechen keine legitimen und zielführenden Mittel der Politik sind“, so Unger, der auch Pfarrerin Ursula Seeger für ihr einfühlsame Andacht zu Beginn der Veranstaltung dankte. Im anschließenden Kulturprogramm brachte Lili Schwethelm ihr Programm mit Lyrik und Prosa von Hilda Stern-Cohen zum Besten, das von Georg Crostewitz auf der Gitarre einfühlsam begleitet wurde. Die Produktion sei zwar bereits fünf oder sechs Jahre alt, so Schwethelm, angesichts ihres Umgangs mit der Sprache und ihren Gefühlen jedoch zeitlos. „Genagelt ist meine Zunge an eine Sprache, die mich verflucht“ lautet eine Textpassage, die das Duo als Thema ihres Projekts wählte, dass im Auftrag der Arbeitsstelle für Holocaust-Literatur an Universität in Gießen und der Ernst Chambré-Stiftung in Lich entstand und in der Produktion eines Hörbuchs gipfelte. Hilda Stern schrieb in Schulhefte, um die Gräuel ihres Lebens zu verkraften. Ausdrucksstark spielte sie mit Worten und Begriffen, die im Nachhinein anklagen und nachdenklich, ja sogar schuldig stimmen. „Verzeihe ihnen nicht, denn sie wissen was sie tun“ ist eine weitere Passage, die den Besuchern in Erinnerung bleiben wird. Tragik und Hilflosigkeit gipfelt in „Der Zug“, der sie nach Auschwitz brachte. Hilda Stern lebte im Vogelsberg nahe Grünberg, ehe sie in ein Ghetto nach Lodz und später nach Auschwitz deportiert wurde. Sie überlebte den Holocaust in einem Lager in Österreich und fand in den USA eine neue Heimat und ein neues Leben. Erst nach ihrem Tod stieß ihr Mann auf ihre Jugendaufzeichnungen und übergab sie dem Goethe-Institut in Washington. Das war vor 15 Jahren. Hilda Stern schrieb ihre Gedichte und Texte ohne Absicht oder gar Aussicht auf Veröffentlichung. Sie schrieb mit einer seelischen Zerrissenheit zur Muttersprache, weil sie eine Dichterin war, die im Verborgenen den Zwang verspürte, schreiben zu müssen. Die Gültigkeit ihrer Texte rage weit über das eigene Schicksal der Dichterin heraus.

FOTOS: STEPHAN LUTZ

 

 

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